Marlène Pichler
Am 4. Fenster im Westtrakt des Kreuzganges im Kloster Muri findet sich auf der rechten Seite eine Figur namens Katharina von Alexandrien. Sie war nach Maria die beliebteste Heilige des Mittelalters, eine Jungfrau und hat durch ihre Argumentationskraft viele Menschen dazu überzeugen können, zum Christentum zu konvertieren. Zum Tode verurteilt solle am Tag ihrer Hinrichtung ein Engel erschienen sein, der das Tötungsinstrument- ein Rad – zerstört hat und dabei 4000 Heiden ums Leben gekommen sein sollen. Durch ihre Enthauptung wurde sie trotzdem zur Märtyrerin und wurde in der katholischen und orthodoxen Kirche verehrt.
Aber halt… Bei einer genauerer Recherche lassen viele Indizien vermuten, dass es diese heilige Katharina als solche gar nie gegeben hat! Ihr Charisma, ihre Gelehrsamkeit und ihr gewaltsamer Tod ist dem der Hypatia von Alexandria nachempfunden. Nur, dass Hypatia eine Heidin und keine Christin war. Sie lebte ca. im Jahr 350, war Mathematikerin, Astronomin und Philosophin und ist ein weiteres Beispiel, wie eine einflussreiche, intelligente Frau vom Patriarchat ausgemerzt wurde.
Hypatia hat wichtige mathematische Beiträge geschrieben. Ihr wichtigster war die Tabellarische Methode, eine verbesserte Art der schriftlichen Division. Sie unterrichtete öffentlich Philosophie und trug in der Öffentlichkeit den Philosophenmantel, was unüblich für eine Frau war. Überhaupt war sie eine der ersten Frauen, die sich in der von Männern besetzten, akademischen Welt behaupten konnte. Obwohl sie Heidin war, unterrichtete Hypatia auch Christen und Juden.
Sie genoss grosses Ansehen zu Lebzeiten und hatte auch enges Vertrauen zu einigen einflussreichen Leuten, unter anderem – trotz unterschiedlicher Überzeugungen – zu Theophilius, dem Patriarch von Alexandria. Dieses Ansehen machte sie jedoch auch zu einer Zielscheibe. Nach Theophilius’ Tod kämpfte dessen Neffe Kyrill um den Machtposten, und Hypatias Status und Einfluss waren ihm ein Dorn im Auge. Ein Mob von Parabolani (Laienbrüder und Mönche), zerrten sie eines furchtbaren Tages aus ihrem Wagen, rissen ihr die Kleider vom Leib, töteten sie mit Ostraka (Scherben oder Dachziegel), zerstückelten ihre Leiche und schleiften ihre Gliedmasse durch die Stadt. Ob der Mord in Kyrills Auftrag geschehen oder durch ihn motiviert war, ist unklar, doch die grausame Tat hat die Bevölkerung erschüttert und wurde deshalb gut dokumentiert.
Hypatia war eine mutige Frau, die ihre Stimme erhoben und ihren politischen Einfluss für das Gute eingesetzt hat und deshalb ermordet wurde.
Und die Christen? Sie haben einen Gegenentwurf zur Hypatia entworfen und die Legende einer idealtypischen Heiligen ins Leben gerufen: Katharina von Alexandrien, die nun auch in Muri eines der Wandfenster schmückt.
(Quellen: Rebecca Buxton/Lisa Whiting (Hrsg.), Philosophinnen, Hamburg 2021; Peter Schill, Ikonographie und Kult der hl. Katharina von Alexandrien im Mittelalter, München 2005)
Mit meinem künstlerischen Beitrag soll Hypatias Geschichte erzählt werden, denn von ihren Werken ist nichts erhalten geblieben. Auf meinem LED-hinterleuchteten Bild ist Hypatia zu sehen, die wie eine Heiligenfigur der Hinterglasmalereien mit ihren Attributen geehrt wird. In der Hand hält sie ein Astrolabium, ein Messgerät für Astronomie, welches sie wahrscheinlich sogar mitentwickelt hat. Hypatia befindet sich in der Bibliothek von Alexandria, in welcher sie sich wohl oft aufgehalten hat. Statt Bücher wurden Pergamentrollen als Träger zur Wissensvermittlung verwendet. Statt ein Wappen bekommt Hypatia ein Pergament mit Zeichnungen von Kegelschnitten, mit welchen sie sich in ihrer Arbeit beschäftigt hatte.
Videointerview mit Marlène Pichler
(Viviane Barbieri für Murikultur, 2024)
Marlène Pichler, geb. 1992, lebt in Zürich. Weitere Informationen siehe: www.marlene-pichler.kleio.com